Montag, 23. Juli 2007

Mitfahrer, Kultur der Knappheit und der Andere

Martin Buber wäre bestimmt auch Mitfahrer geworden. Ich nehme gerne Mitfahrer mit und bin auch schon öfter als Mitfahrer gereist. Mitfahren ist chatten aber auf besserem, weil realerem Niveau. Das Mitfahren ist eine der schönsten Möglichkeiten die Zwangsverhältnisse im Umgang mit dem Anderen zu simulieren, die Familien und Nachbarschaften oft so schön und doch manchmal auch ebenso unerträglich gestalten. Mitfahrgemeinschaften sind Notgemeinschaften. Die Nostalgie der Nachkriegsarmut und die Verklärung der knappesten aller modernen Gesellschaften in Form der Ostalgie kehren in der Mitfahrgemeinschaft auf erträglichem Niveau wieder. Auf engstem Raum drängt sich der Andere auf und man selbst wird durch Wahrnehmungszumutung zum kommunikativen Belästiger. Man ist in ein bewegliches Gehäuse eingeschweißt, das nur in Richtung auf ein Ziel Erlösung voneinander verspricht, und doch, es lebt sich häufig gut in dieser Notgemeinschaft. Mit starrem Blick auf die Straße und kurzen Exkursen in die Landschaft spricht es sich verhüllt wie am Telefon. Die Dialogform pendelt zwischen einem wirklichen Gespräch und aneinandergereihten Monologen. Man sieht sich nur selten an, wenn man spricht, Gestik und Mimik sind reduziert und unterliegen keinem sofortigen Bestrafungsverdacht. Die Mitreisenden lassen einander mehr Zeit, um Rede und Gedanken zu entfalten, zudem hört man einander auch intensiver zu und unterbricht sich seltener als im Gespräch mit Bekannten oder Freunden. Folgenloser als Familie und Nachbarschaft ist dieses kurzzeitige Beisammen und deshalb ist man auch offener - selbst für befremdlichere und ganz selten sogar für fast schon bedrohliche Andersartigkeiten. Preiswert und "ökologisch" ist das Mitfahren und erfordert den ganzen Mut sich in die Hände und die Verantwortung eines anderen Menschen zu begeben. Mitfahren heißt nach freier Wahl dasein, der Mitfahrer hat im Gegensatz zum Fahrer zudem das egoistische Wahlrecht des Einwendens und Abwendens bis hin zum "Bei-" und "Mit-Schlaf" in ungeschützter Nachbarschaft. Selten rückt man Fremden mit körperlichen Eigenheiten wie Schnarchen, Schmatzen oder die ruckartige fast schon störende kuschelnde Suche nach einem virtuellen Kissen so nahe auf den Pelz, wie wenn man seinen Eigenraum in der Mitfahrkugel zum selbstverliebten Ausflung ins Land der Träume "mißbraucht". Dem Mitfahrer ist es gestattet sich der Kommunikation sowohl zu verweigern, wie es umgekehrt ebenso erlaubt ist, sich spontan einzumischen und wieder dabei zu sein. Nur sehr selten habe ich das Mitfahren in schlechter Erinnerung behalten. Meistens hat es mich kurzzeitig bereichtert und in der Regel war es konsequent folgen- und fortsetzungslos. Hätte man in den Zügen das "Gemeinschafts"-Abteil nicht zugunsten der egomanen Großraumwagen abgeschafft, so wäre der Zug sicher die vorteilhaftere Alternative, was das Kennenlernen angeht - so man es sucht. Ich zumindest lerne gerne Menschen kennen und suche deshalb in modernen Zügen fast immer den Speisewagen auf, in dem man dem eigenen Beuteschema nach eigener freier Wahl mit der notwendigen Distanz folgen kann. Billiger ist der Zug ja leider schon lange nicht mehr, und die neue Servicebahn bedient nur wieder die eigenen Isolationsegoismen. Notebooknutzer und opulent raumausgreifende Zeitungs- und Bücherleser aber auch die "Mitbringer" von Speisen und Getränken sind da die vorteilhafteren Ausnahmen als potentielle Mitglieder für kommunikative Notgemeinschaften im Zug, nachdem sie mit kurzen gegenseitigen Blickbedrohungen ihr Revier an den Minischreibtischen abgesteckt haben und dann doch auch manchmal wider die eigene Erwartung und wider eigenes Wissen ins Gespräch miteinander geraten. Ansonsten aber ist die Notgemeinschaft Auto der Notgemeinschaft Bahn auf Jahre überlegen, schon deshalb weil das Auto als Mitfahrauto in Zukunft immer mehr zur alten Bahn mutiert und sich die moderne Bahn mit ihren Fahrtrichtungsgästen auch kommunikativ in Richtung auf das alte Auto mit seinen Individualisten in der Sardinendose bewegt. Nur der Zweisitzer und das Cabrio scheinen beim PKW genuin mitfahrfeindlich zu sein. Da bringt man sich die bekannte Begleitung als Accessoire der Reise wahrscheinlich gleich vorher mit. Jeder fährt in der Bahn der Jahrtausendwende für sich allein und im Auto wohl eher kollektiv - die Mineralölwirtschaft und der Staat machen es möglich, aber, ach ja, da bleibt noch das Handy, und das ist eine ganz eigene und andere Geschichte, sowohl in der Bahn als auch im Auto.


Literatur:

http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Buber

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